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Alle Menschen sind leidige Tröster. Wir können ein Trostpflästerchen aufziehen, aber trösten im Sinne von helfen können wir nicht. Es gäbe keinen Trost, wenn nicht der Gott allen Trostes den Mund aufgetan und seinem Diener den Mund gefüllt hätte: Sag das Wort! Sag den Weg! Sag die Wahrheit! - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Tröstet! So habe ich es als Predigttext gelesen. Tröstet! So habe ich es als Predigtvorbereitung meditiert. Tröstet! So habe ich es als Predigtauftrag verstanden. Tröstet, tröstet mein Volk!

Und dann traf ich ihn, jenen 35-jährigen Kaufmann. Seit Jahren gehört er zum CVJM. Mit großem Können dirigiert er den Posaunenchor. Jede freie Minute stellt er zur Verfügung. “Wie geht’s, alter Freund?”, frage ich ihn. Nach einigem Zögern antwortet er leise: “Zum 1. März bin ich gekündigt. Der Laden wird dicht gemacht. In meiner Branche gibt es keine Arbeit mehr.” Seine Sorge war unüberhörbar. Hätte ich ihm sagen sollen, dass in unserem Landstrich noch keiner verhungert ist, dass das Arbeitslosengeld zum Überwintern reicht und dass der nächste Wirtschaftsaufschwung bestimmt kommt? Aber das wäre doch Gerede gewesen, kein Trost. Tröstet die in Sorgen Gefangenen - nur wie?

Und dann begegnete ich ihm, jenem 40-jährigen Beamten. Seit Jahren ist er glücklich verheiratet. Drei Kinder wachsen problemlos heran. Direkt am Wald baute er sein Eigenheim. “Wie stehen die Aktien, altes Haus?” pflaumte ich ihn an. Aber diesmal geht kein Lächeln über sein Gesicht. “Vor 6 Monaten wachte ich mit Nervenschmerzen auf. Seither kriege ich meine Ängste nicht mehr los. Es gibt überhaupt nichts mehr, was mich erfreuen könnte. Seine Depression war unübersehbar. Hätte ich ihm sagen sollen, dass er mal Pause machen soll, dass alles im Leben halb so wild ist und dass auf jeden Dezember wieder ein Mai folgt? Aber das wäre doch Gefasel gewesen, kein Trost. Tröstet die in Depression­en Gefangenen - nur wie?

Und dann besuchte ich sie, jene 50-jährige Frau. Seit Jahren liegt sie im Bett. Die Glieder sind nicht mehr zu bewegen. Über Sonden, durch die Nase hindurch, wird sie ernährt. Ihre Krankheit war übermächtig. Hätte ich ihr sagen sollen, dass ihr Sanatorium ein gut geführtes Haus ist, dass herrliche Ozonluft durchs Fenster kommt und dass die Kunst der Medizin immer weiter fortschreitet? Aber das wäre doch Geplapper gewesen, kein Trost. Tröstet die in Krankheit Gefangenen - nur wie?

Und dann sah ich all die Jungen, die nicht mehr hinaussehen, all die Erwachsenen, die schon am Ende sind, all die Alten, die nur noch Vorwürfe erheben. Tröstet die in Angst Gefangenen! Tröstet die in Verzweiflung Gefangenen! Tröstet die in Verbitterung Gefangenen! Tröstet, tröstet mein Volk — nur wie?

Die damals waren in Babel gefangen. Seit Jahren lebten sie in der Fremde. Nebukadnezar hatte sie kurzerhand deportiert. Die Kinder Israel schmachteten am Euphrat. Ihr Elend war über alle Maßen. Dann bekam der Prophet den Auftrag zu trösten. Hätte er ihnen sagen sollen, dass auch Babel eine Reise wert ist, dass Zeit die Wunden heilt und dass alles Miesmachen nichts bringt. Aber das wäre doch Geschwätz ge­wesen, kein Trost. Deshalb klagt er: Was soll ich predigen? Was soll ich verkündigen? Was soll ich sagen? Tröstet die in Babel Gefangenen - nur wie?

Liebe Freunde, mit dem Propheten teilen wir das Schicksal, dass alle Menschen leidige Tröster sind. Wir können eine Trostrunde einläuten, wir können einen Trostpreis verteilen, wir können ein Trostpflästerchen aufziehen, aber trösten im Sinne von helfen können wir nicht. Bitter ist das, gallenbitter, aber wahr. Auch an diesem Adventsmorgen gäbe es keinen Trost, wenn nicht Gott selber, der ein Gott allen Trostes genannt wird, den Mund aufgetan und seinem Diener den Mund gefüllt hätte: Sag das Wort! Sag den Weg! Sag die Wahrheit! In diesem dreifachen Hinweis können auch wir den Trost entdecken.

1. Sag das Wort

Stellen wir uns einen Gefangenen vor. Heimwehkrank hockt er auf seiner Pritsche. Die Gefängnismauern schneiden ihn von der Freiheit ab. Dann bekommt er Besuch. Der Eintretende streckt ihm die Hand entgegen und sagt: Guten Tag! Aber der Einsitzende kann sich einen guten Tag im Knast schlecht vorstellen. Nun legt der Ankömmling ein Päckchen auf den Tisch und sagt: Grüße von daheim, aber der Sträfling kann mit Grüßen wenig anfangen. Anschließend zündet der Besucher sogar eine Kerze an und sagt: Schöne Adventszeit!”, aber der Inhaftierte sieht auch im Kerzenschein nur seine Zelle. Er braucht letztlich keinen Gruß und kein Päckchen und keinen Kerzenschein, sondern nur das Wort: Du bist begnadigt! Du bist erlöst! Du bist frei!

Genau das aber passiert bei den israelitischen Gefangenen. Heimwehkrank lagern sie an den Wassern Babels. Die medische Mauer schneidet sie von der Freiheit ab. Dann erscheint der Prophet. Er wünscht keinen guten Tag unter der sengenden Hitze des Orients. Er überbringt keine heimatlichen Grüße vom Jordan. Er zündet keinen Ölzweig vom Tempelberg in Jerusalem an. Mit Wünschen und Grüßen und Zweigen ändert sich gar nichts. Jesaja sagt: Ihr seid begnadigt! Die Schuld ist vergeben. Ihr seid erlöst! Die Gefangenschaft hat ein Ende. Ihr seid frei! Freude fängt an. Jubel bricht auf. Lieder werden gesungen. Wohl ist das Dunkel noch da, aber das Licht ist nicht mehr aufzuhalten.

Genau das will heute wieder bei Gefangenen aller Art passieren. Heimwehkrank liegen sie in ihren Betten, leiden sie an ihren Depressionen, leben sie mit ihren Sorgen. Die Sanatoriumsmauern, die Krankenhausmauern, irgendwelche Hausmauern schneiden sie von der Freiheit ab. Dann wird dieser Text laut. Er wünscht ihnen keine erträglichen Tage bei den Schmerzen. Er transportiert auch keine herzlichen Grüße vom Himmel. Er zündet erst recht keine falschen Hoffnungen an. Dies alles bringt ja nichts und verändert keine Verhältnisse. Jesus, der sich einmal als die Tür bezeichnet hat, sagt: “Die Schuld ist vergeben. Ich habe sie auf mich genommen. Die Gefangenschaft hat ein Ende. Ich habe sie beendet. Ihr seid frei!”

Warum ist so wenig Freude unter uns? Warum ist so wenig Jubel bei uns? Warum werden so viel Klagelieder von uns angestimmt? Wohl ist die Sorge noch da, aber sie ist zeitlich begrenzt. Wohl ist die Krankheit noch da, aber sie dauert nicht ewig. Wohl ist der Tod noch da, aber sein Büttelrecht ist jetzt schon verwirkt. Verstehen Sie jetzt Jochen Klepper, diesen schwermütigen und schwerblütigen Dichter, wenn er inmitten seines persönlichen Dunkels singen konnte: “Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern. Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.”

Weil das Wort von der Vergebung gesagt ist, deshalb haben alle andern Worte von der Bedrückung nichts mehr zu sagen.

2. Sag den Weg

Denken wir wieder an unseren Gefangenen. Dankerfüllt steht er in seiner Zelle. Die Gitter haben ihren Schrecken verloren. Dann schaut er hinaus. Er sieht den Gang, aber der geht nur zu den Arbeitsräumen, in denen man schrecklich schuften muss. Er sieht die Gasse, aber die geht nur in den Hof, auf dem man seine Runden dreht. Er sieht die Straße, aber die geht nur bis zum Tor, durch das neue Häftlinge hereingeführt werden. Er sieht ein ganzes Labyrinth von Gängen, aber wo ist der Ausgang? Er braucht letztlich keine dieser Gänge und Gassen und Straßen, sondern jetzt den Hinweis: Dort ist der Weg. Dort geht’s hinaus. Dort stimmt die Richtung.

Genau das geschieht bei den israelitischen Gelungenen. Dankerfüllt stehen sie in ihren Quartieren. Die Ghettos haben ihre Schrecken verloren. Dann taucht der Prophet wieder auf. Er spricht nicht von den Gängen zu den babylonischen Baustellen. Er zeigt nicht die Gassen durch die heruntergekommene Weltstadt. Er deutet nicht auf die Prachtstraße zum Stadttor. Alle Straßen dieser Stadt führen nicht nach Israel. Jesaja sagt: “Dort ist der Weg.” In der Einöde gibt es eine Bahn. Dort geht’s hinaus. Hindernisse sind weggeräumt. Dort stimmt die Richtung. Die Freude wird größer. Der Jubel wird stärker. Die Lieder werden sogar von den Bergen gesungen. Wohl ist der Weg noch schwer, aber der Ausweg steht klar vor Augen.

Genau das will heute wieder geschehen. Dankerfüllt falten manche die Hände. Operationssäle, Isolierstationen, Pflegeheime, Altenzimmer haben ihre Schrecken verloren. Aber wie geht’s weiter? Was wird morgen? Wo ist der Ausweg? Dann wird der Text wieder laut. Er spricht nicht von unseren Gehwegen, Asphaltgassen und Autobahnen, die doch nur Einbahnstraßen zum Tode sind.

Jesus, der sich einmal als den Weg bezeichnet hat, sagt: “Dort ist der Weg.” Gott hat trassiert. Dort geht’s hinaus. Gott hat planiert. Dort stimmt die Richtung. Jesus ist diesen Weg selbst gegangen: durch die Täler des Leids und der Tränen hindurch, an den Schlaglöchern der Sünde und Schuld vorbei, über die Berge der Sorge und Verzweiflung hinweg, bis zum Gipfel der Gemeinheit auf Golgatha hinauf. Und dort brach er nicht ab, sondern führte durch durchs Felsengrab hindurch in die ewige Herrlichkeit. Seither gibt es einen Ausweg aus jeder Gefangenschaft. Seither gibt es einen Gehweg durch jedes Dunkel. Seither gibt es einen Heimweg zum Vater.

Verstehen Sie jetzt Paul Gerhardt, wenn er inmitten des Dreißigjährigen Krieges reimen konnte: “Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.”

Weil das Wort vom Weg gesagt ist, haben alle andern Worte von der Ausweglosigkeit nichts mehr zu sagen.

3. Sag die Wahrheit

Sehen wir noch einmal auf unseren Gefangenen. Kraftgestärkt macht er sich auf den Weg. Die Ketten hat er hinter sich gelassen. Dann blickt er vorwärts. Die Landschaft ist offen, aber überall Wüste. Der Horizont ist weit, aber überall Steppe. Der Himmel ist klar, aber überall Hitze. Finde ich den Weg? Habe ich die Kraft? Schaffe ich es bis zum Ziel? Was nützt ihm die ganze Freiheit, wenn keiner mit ihm geht? Eine Wegbeschreibung ist schon recht, aber eine Wegbegleitung tut not.

Genau die wird den israelitischen Gefangenen angeboten. Kraftgestärkt tun sie die ersten Schritte. Babel haben sie hinter sich gelassen. Dann redet der Prophet ein drittes Mal. Er verharmlost den Wüstenweg nicht. Er bagatellisiert auch die Steppenwanderung nicht. Er macht nicht in fadenscheinigem Optimismus. Jesaja sagt: Ein Hirte ist da, der den Weg kennt. Ein Hirte ist da, der die Kraft hat. Ein Hirte ist da, der bis ins Ziel trägt. Die Freude ist randvoll. Der Jubel ist nicht mehr zu überbieten. Die Lieder klingen durchs ganze Land. Wohl ist Jerusalem noch weit, aber diese Wahrheit ist nicht mehr zu leugnen.

Liebe Freunde, genau sie wird heute wieder angeboten. Kraftgestärkt haben einige die ersten Schritte im Glauben getan. Vieles wurde zurückgelassen. Aber dann ging’s nicht ins Paradies, sondern in die Wüste. Dann ging es nicht ins Schlaraffenland, sondern in die Steppe. Dann ging es nicht in den Schatten, sondern in die Hitze. Glaubende sind es, die immer wieder fragen: Finde ich den Weg durch den Irrgarten des Lebens? Habe ich die Kraft alles durchzustehen? Schaff’ ich es überhaupt bis zum letzten Ziel? Was nützt mir die ganze Freiheit eines Christenmenschen, wenn ich allein meines Weges ziehen muss?

Achten Sie auf diese letzten Verse. Sie beschönigen nichts. Sie versüßen nichts. Sie streuen keinen Sand in die Augen. Jesus, der sich einmal als die Wahrheit bezeichnet hat, sagt: Ein Hirte ist da: Er wird seine Herde weiden und die Mutterschafe führen. Ein Hirte ist da: Er kommt gewaltig und sein Arm wird herrschen. Ein Hirte ist da: Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen.

Also endlich einer, der uns nicht treibt, sondern trägt, einer, der uns nicht ausnimmt, sondern annimmt, einer, der uns nicht in Bausch und Bogen verdammt, sondern im Bausch seines Rockes und im Bogen seines Armes verwöhnt. Verstehen Sie jetzt König David, wenn er inmitten der Flucht vor dem rasenden Saul sprechen konnte: “Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.”?

Weil das Wort von der Wahrheit gesagt ist, deshalb haben alle andern Worte nichts mehr zu sagen. Der, der in der Welt das Sagen hat, sagt uns dies Wort, diesen Weg und diese Wahrheit, damit wir vom Trost weitersagen können. Und liebe Freunde, ist dieser Trost nicht sagenhaft?

Amen